Was hätte Kant gesagt? Zu den Ereignissen während des Derbysiegs

kant

Wir sind ein Blog, der vor allem Spaß am Fußball hat. Wer uns liest und kennt weiß, dass wir die Geschehnisse um den Verein mit Leidenschaft, gewaltfrei und manchmal mit einem Funken Humor begleiten. Dafür haben wir unsere Gründe. Die Geschehnisse um das Spiel gegen Offenbach herum veranlassen uns eine Ausnahme zu machen und einen bierernsten Beitrag zu schreiben. Wir machen uns nämlich Sorgen. Wir sehen die Gefahr, dass die Ereignisse um das Hessenderby unverhältnismäßig und hysterisch dargestellt und deshalb nicht gut aufgearbeitet werden. Mit „hysterisch“ meinen wir „hysterisch“ im Wortsinn: Die Reaktionen insbesondere auf den versuchten Platzsturm empfinden wir in Teilen als übertrieben nervös. Sie zeugen von einer sehr leichten Erregbarkeit der Gemüter, was zur Konsequenz haben kann, dass nicht mehr klar gedacht und in der Folge auch nicht vernünftig gehandelt wird. Hysterie steht einer sachlichen Aufarbeitung der Ereignisse entgegen. Wir sehen uns deshalb veranlasst einen Beitrag zum Nachdenken beizusteuern, getragen von der Hoffnung, dass sich an den verschiedenen Stellen in und um den Verein nicht nur Gemüter erhitzen, sondern mit Bedacht gehandelt wird. Nachdenken sollten unserer Ansicht nach alle: Neben uns Fans zählen wir dazu den Verein und seinen Sicherheitsdienst, aber auch die Polizei und die lokalen Medien.

Die Fans

Um die Ereignisse um das Spiel in Worte zu fassen hat Coach Cramer auf der anschließenden Pressekonferenz einen großen Denker ins Feld geführt: Immanuel Kant. Cramer erinnerte an Kants Kategorischen Imperativ, der als Grundmaxime für zivilisiertes Zusammenleben gilt.

Bei Kant heißt es: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Was hat Kant mit einem versuchten Platzsturm beim Fußball zu tun? Ganz einfach: Wenn jeder einfach so auf’s Spielfeld rennt, ist Fußball nicht mehr machbar. Platzstürmer nehmen nämlich billigend in Kauf, dass der Spielbetrieb eingestellt werden muss. Darunter leiden alle – auch der Verein. Bedauerlich war am Samstag vor allem, dass die bis dahin hervorragende Derbystimmung gelitten hat und die Cramer-Elf zur Nebensache wurde, die mit ihrem ehrlichen Fußball jede Unterstützung von den Rängen verdient gehabt hätte. Mit dem Bedauern um die Stimmung maßen wir uns allerdings nicht an, einen versuchten Platzsturm zum Anlass zu nehmen, allen im Stadion Art und Form der Unterstützung und der Vereinsliebe zu diktieren. Wir sind  optimistisch genug um zu glauben, dass die einzelnen Gruppen im Stadion die Geschehnisse untereinander diskutieren werden. Daran beteiligen wir uns bei Bedarf sogar gerne.

Ereignisse dieser Art sorgen allerdings immer dafür, dass zwei Parteien auf den Plan gerufen werden, die rein gar nichts zur Aufarbeitung geschweigendenn zur Problemlösung beitragen werden: Erstens jene, die öffentliche Pauschalurteile fällen und bei jeder Gelegenheit ein „hartes Durchgreifen“ verlangen, ohne zu wisssen gegen wen überhaupt.  Wir halten davon nichts. Aktionismus läuft Gefahr die Falschen zu treffen. Er trägt außerdem zur Verhärtung unüberbrückbarer Fronten bei. Die lange Geschichte von willkürlichen Stadionverboten legt davon Zeugnis ab.

Neben der „law and order“ Fraktion schlägt gerade auch die Stunde der Moralisten. Allen voran in einem HNA Kommentar wird erklärt was sich beim Fußball gehört und was nicht. Es wird sich in bester Oberlehrermanier die heile Fußballwelt einer Langnese-Familienblock-Atmosphäre herbei gewünscht: Zwar irgendwie stimmungsvoll, aber vor allem friedlich, glatt, sauber… ein Spaß für die ganze Familie eben. Das ist zwar ein hehrer Wunsch. Diese Haltung ist aber vor allem eins: naiv und weltfremd. Sie verkennt, dass Fansein schon immer sehr unterschiedlich gelebt wird und Leidenschaften nicht über einen konsumfreundlichen Verhaltenskodex diktiert werden können.

Zum anderen verschweigt der Wunsch nach der heilen Fußballwelt, dass Fußball immer Spiegel der Gesellschaft ist: mit allen Sonnen- und Schattenseiten. Hier gibt es also auch soziale Gruppendynamiken, die nicht einfach durch seelige Wünsche und Appelle weggeredet oder durch Bestrafung gelöst werden können. Das Problem liegt dann tiefer. Dass es in Kassel endlich organisierte Fansozialarbeit gibt, ist deshalb ein Schritt in die richtige Richtung.

Der Verein und sein Sicherheitsdienst

Auch der Verein und sein beauftragter Sicherheitsdienst haben sich einige Fragen zu stellen: Wieso zum Beispiel konnte diese große Menge an geklauten Zaunfahnen unerkannt in den Offenbacher Block gelangen? Wieso durften die Offenbacher Fans mit diesem Spruchband in den Block? Vor allem aber: Wieso gibt der Sicherheitsdienst eine öffentliche Erklärung zu den Geschehnissen ab, bevor er mit dem Verein gesprochen hat? Die voreilige Erklärung lässt nämlich tief blicken und wirft kein gutes Licht auf alle Beteiligten. Zum Beispiel heißt es in der Stellungnahme von Protex, dass man die geklauten Zaunfahnen nicht hätte erkennen können, weil die Vereinsfarben Offenbachs und Kassels identisch seien. Wenn der Sicherheitsdienst nicht in der Lage ist die Fahnen zu erkennen, wieso war das Thema dann nicht Gegenstand einer Sicherheitsbesprechung im Vorfeld? Fotos von den Fahnen gab es ja genug. Der Sicherheitsdienst kommentiert im Nachgang außerdem, dass es sich bei dem Spruchband um eines gehandelt habe, das das „Ü6 Niveau“ (Zitat) nicht überschritten hätte. Wie kommt der Sicherheitsdienst bei einer inhaltlichen Bezugnahme auf ein Gewaltverbrechen zu so einer seltsamen Einschätzung?

Die Aufarbeitung dieser Detailfragen sind Vereinssache! Man sollte den beteiligten Akteuren die nötige Zeit geben, um sie gründlich zu klären. Schwer wiegt allerdings, dass die Fahnenpräsentation der Offenbacher jüngster Ausdruck einer intransparenten Linie des Sicherheitskonzepts ist, wurde doch zuletzt auf Kasseler Seite sehr penibel auf den Wortlaut von Spruchbändern geschaut. Klar ist, dass künftig eine goldene Regel nicht gebrochen werden darf, die gerade leider anfängt Praxis zu werden: Was für Gästefans gilt, muss auch für Heimfans gelten und umgekehrt. Der Verein wäre gerade deshalb gut beraten den Fans in diesem Prozess der Aufarbeitung ein Ohr zu schenken um zerbrochenes Porzellan zu kitten und um zukünftig bei Sicherheitsfragen wieder nachvollziehbar zu handeln.

Die Polizei und die Medien

Sorgen bereitet uns im Nachgang vor allem aber eine hysterische Kommentierung der Ereignisse, die nicht unwesentlich durch das Auftreten und vor allem die Nachbereitung der Polizei ausgelöst wurde. Dass die mediale Berichterstattung und Wortmeldungen von Teilen des Vereinsumfelds ähnlich hysterische Blüten trägt, wundert uns weniger. Schön ist das trotzdem nicht.

Die Polizei berichtete im Nachgang des Spiels:

„In der zweiten Halbzeit zeigten dann Personen im Offenbacher Fanblock, der mit rund 470 Anhängern gut gefüllt war, ein Banner mit der Aufschrift: „Ist die Fresse noch so groß, die Fahnen seid ihr trotzdem los.“ Dazu wurden in dem Block mehrere KSV-Fahnen gezeigt, bei denen es sich offenbar um die den KSV-Anhängern Anfang 2015 gestohlenen Gegenstände handelte. Daraufhin kam es zu gegenseitigen Provokationen und einer schnellen Aufheizung der Stimmung in beiden Fanblöcke. Mehrere Anhänger beider Vereine kletterten dabei auf die Absperrzäune, aus dem KSV-Block gelangten vereinzelte Personen in den Innenraum. Durch schnelles und konsequentes Einschreiten gelang es der Polizei einen Platzsturm zu verhindern und die Chaoten wieder zurück in den Kasseler Block auf der Nordtribüne zu drängen.“ (Pluralfehler i. Original).

Was war geschehen? Im Anschluss an die Offenbacher Provokation gelangten etwa zwanzig Menschen zwischenzeitig auf die Laufbahn vor der Nordkurve – schwarz gekleidet, zum Teil vermummt, mit den Armen wedelnd, allerdings – sorry Jungs – gaben sie kein sonderlich koordiniertes Bild ab. Eine geplante Aktion sieht jedenfalls anders aus. Zwischen dem Betreten des ersten und dem Verlassen des letzten „Tartanbahnstürmers“ vergingen etwa 30 Sekunden. Als die Polizei in Sichtweite war, drehten nämlich alle Beteiligten sofort um und begaben sich unverzüglich in den Block.

Richtig an dem Polizeibericht ist: Das „schnelle“ Eintreffen der Polizei hat den Weg der Störer gestoppt. Unter dieser beachtlichen Laufleistung der Beamten kann sicher auch ein „konsequentes“ Eingreifen verbucht werden. Allerdings musste niemand „gedrängt“ werden. (Übrigens erstrecht nicht auf die „Nordtribüne“, wie die Polizei in ‚guter‘ Kenntnis ihres Einsatzortes schreibt). Der Duden versteht unter „Drängen“ nämlich: „jemanden [trotz seines Widerstands] irgendwohin drücken oder schieben“. Der Polizeibericht legt nahe anzunehmen, dass von den Eindringlingen nach (!) Eintreffen der Beamten Widerstand erfolgt sei. Man kann den Bericht in Unkenntnis der Faktenlage außerdem so deuten, dass die Polizei physisch hätte drücken oder schieben müssen, damit die Leute zurück an ihren Platz gelangten. Es wurde allerdings zu keinem Zeitpunkt gedrängt, geschoben oder gedrückt!

Die Polizei fährt fort: „Als mehrere Personen erneut versuchten den Platz zu stürmen und die Beamten mit Gegenständen bewarfen und attackierten, kam es zum Einsatz von Pfefferspray durch die Einsatzkräfte.“

Was geschah wirklich? Zwei Zuschauer versuchten nach Eintreffen der Polizei auf den Absperrzaun zu klettern. Einer kehrte nach Androhung des Pfeffersprayeinsatzes durch einen Polizisten um. Bei dem anderen blieb eine Androhung aus. Ihm wurde stattdessen unverzüglich Reizgas in sein Gesicht gesprüht. Auch er kehrte daraufhin um. Die Polizei beließ es allerdings nicht bei dem gezielten Einsatz des Pfeffersprays. Stattdessen besprühte sie großräumig und unvermittelt den unteren Bereich des Block 30. Die Polizei muss sich die Frage gefallen lassen: War das verhältnismäßig?

Und außerdem: Hatte das den gewünschten Effekt? Denn erst danach flogen Einwegbierbecher aus Plastik und eine Plastikstange an der sich vorher eine Fahne befand. Bei den geworfenen Sachen handelte es sich zwar zweifelsfrei um „Gegenstände“ allerdings keinesfalls um welche mit größerer Verletzungsgefahr, sondern – bis auf die Fahnenstange – um „Weichplastikwurfgeschosse mit Bierinhalt“, die keiner Fliege weh tun. Die Polizei schreibt außerdem, dass sie zusätzlich zu dem Werfen von Gegenständen „attackiert“  – also „angegriffen“ (Duden) –  worden sei, ohne dies näher auszuführen. Dies entbehrt jeder Grundlage.

Darüber hinaus verdreht der Bericht auf entscheidende Weise die Chronologie der Geschehnisse: Die Weichplastikwurfgeschosse flogen erst nach dem großräumigen Pfeffersprayeinsatz. Der Einsatz hat die Gemüter also sichtlich erhitzt. Im Anschluss verstreute sich die Menge außerdem und es begann unübersichtlich zu werden. Abgesehen davon wurde ein Verletzungsrisiko für Unbeteiligte billigend in Kauf genommen, insbesondere deshalb weil eine Androhung des großflächigen Einsatzes von Reizgases ausblieb. Er kam für viele sehr plötzlich. Nicht zuletzt deshalb, weil die Lage eigentlich gerade dabei war sich wieder zu beruhigen.

Auch die Deutung eines zweiten Versuchs des „Platzsturms“ durch „mehrere“ Personen ist mindestens fragwürdig. Während des kompletten Spiels kletterten immer wieder Zuschauer auf den Zaun – auch auf Offenbacher Seite. Dies wertete die Polizei offenbar nicht als versuchten Platzsturm. Zwei Menschen auf dem Zaun rechtfertigen in der deutschen Sprache zwar den Gebrauch des Plurals. In dem Fall des Berichts erweckt es aber den Anschein, als habe sich eine kritische Masse von Menschen auf dem Weg in das Stadioninnere begeben. Auch das entspricht nicht den Tatsachen.

An mehreren Stellen des Berichts werden also entweder durch Wortakrobatik, Verkehrung der Chronologie der Ereignisse oder schlichtweg durch die Darstellung von Geschehnissen die nicht stattfanden falsche Wahrheiten konstruiert. Warum?

Es ist nicht weiter Schlimm, wenn Beamte mal unsauber arbeiten – so Schreibtischarbeit macht ja auch keinen Spaß. Das Problem an dem Polizeibericht ist vielmehr, dass er diesmal ausnahmsweise gelesen wurde und sogar recht weite Kreise gezogen hat. Mehr noch hat er die Deutungshoheit über die Geschehnisse übernommen.

Sowohl der Hessische Rundfunk als auch die HNA haben in ihrer Berichterstattung unkritisch aus dem Polizeibericht zitiert. Zum Beispiel bei der Deutung des „Zurückdrängens“. Gleichzeitig wurde an keiner Stelle der großräumige Pfeffersprayeinsatz hinterfragt. Das wundert uns, weil wir finden, dass man die jüngeren Trends der Verletztenentwicklung in deutschen Fußballstadien als Sportjournalist auf dem Schirm haben könnte (siehe Kasten unten) und deswegen gegenüber Reizgaseinsatz sensibilisiert sein sollte.

Außerdem stimmt der Polizeibericht nachdenklich. Wenn die Polizei unsauber Berichte schreibt und sich dabei nicht um eine sachliche Darstellung der Gefahrenlage bemüht, wird sie dann in der Lage sein die Geschehnisse mit Blick auf ihr eigenes Handeln sachgemäß aufzuarbeiten? Wenn nicht: Müssen wir etwa künftig öfter im Auestadion mit dem unvermittelten Einsatz von Reizgas rechnen, wenn sich Menschen an Zäunen hochziehen?

Mit anderen Worten: Wir haben die Befürchtung, dass zwar in der Fanszene und im Verein die Aufarbeitung der Geschehnisse ihren Lauf nehmen wird, sie polizeiintern aber ausbleibt. Mit Blick auf den Reizgaseinsatz halten wir die Abwägung der Verhältnismäßigkeiten allerdings für mehr als erforderlich. Hysterie ist dabei ein schlechter Ratgeber. Etwas mehr Wahrheitstreue wäre hilfreich.

In seiner „Metaphysik der Sitten“ schreibt Kant „Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, (…) ist das Widerspiel der Wahrhaftigkeit: die Lüge (aliud lingua promtum, aliud pectore inclusum gerere).“

Verletzungsrisiko in deutschen Fußballstadien

In dem jüngsten Bericht der „Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS)“ wird bilanziert, dass es in den ersten drei deutschen Fußballigen in der vergangenen Spielzeit  1.265 verletzte gab. Alleine 185 Verletzungen sind laut der veröffentlichten Zahlen auf polizeilich eingesetzte Reizstoffe wie Pfefferspray zurückzuführen. Hierdurch wurden sogar weit mehr Personen verletzt als etwa durch das Abbrennen von Pyrotechnik (72 Verletzte). Bei einem Zuschauerandrang von 21.286.950 beträgt das Verletzungsrisiko insgesamt 0,006 Prozent. Fußballspiele in den ersten drei Ligen sind in Deutschland also relativ sichere Großereignisse, wenn man sie etwa mit Volksfesten, Kneipen- oder Diskobesuchen vergleicht.

2 Gedanken zu „Was hätte Kant gesagt? Zu den Ereignissen während des Derbysiegs“

  1. Zu diesem hervorragenden Beitrag wäre lediglich noch anzufügen, daß die genannten Medien gern mit Begriffen wie Derby, Hessenderby oder Risikospiel kokettieren, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und Klickzahlen zu generieren.
    Wenn diese dann aber plötzlich mit Inhalt gefüllt werden (Leidenschaft, Turbulenz und Rambazamba) ist’s auch wieder nicht recht.
    Bigott.

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