Du warst doch schon mal im Auestadion?

Der KSV Hessen Kassel steckt in einer tiefen Krise. Ausgerechnet jetzt steht das für die Fans so wichtige Duell gegen einen Frankfurter Vorort an. Gelingt den Löwen die Wende? Die Gedanken an den so wichtigen ersten Saisonsieg lassen Blog36 nachts schweißgebadet aufwachen. Zeit, die bittere Realität für ein paar Zeilen zu verlassen.

Mit weit geöffneten Armen steht Freddy Brill einfach nur im Regen vor der Nordkurve. Über die ganze Breite des Zauns ist ein Schriftzug zu lesen: Alle zusammen für den KSV. Die Schlachtrufe der 1200 Kasseler im Auestadion überschlagen sich, keiner versteht mehr sein eigenes Wort. Von hinten kommt Lukas Iksal angestürmt, reißt Brill im Jubeltaumel zu Boden. Der Kapitän hat gerade das 2:1-Siegtor gegen die Kickers Offenbach geschossen. Die Südkurve ist verstummt und regungslos. Der KSV ist wieder da.

Noch vor acht Tagen war eben dieser Brill nach desaströsen 90 Minuten mit hängendem Kopf als letzter Spieler aus der Nordkurve gekommen. Die Fans hatten der Mannschaft nicht der Rücken zugekehrt. Doch der Schrecken und die Fassungslosigkeit stand allen ins Gesicht geschrieben. Nicht wenige ertranken ihren Kummer und die Sorge um den geliebten Verein im Bier, das zumindest nach Spielende in rauen Mengen floss. Wie sollte die Wende gelingen?

Direkt nach dem Spiel versammelten sich die Gremien zur Krisensitzung in den Katakomben. Muss Tobias Damm jetzt gehen? Diese Forderung wurde von nicht wenigen immer unverhohlener artikuliert. Der ungefährdete Sieg der Zwoten am Sonntag konnte den Schmerz nur kurz vergessen machen. Die allerorten geforderte Reaktion des Vereins blieb zunächst aus. Keine Trainerentlassung, kein Wunderspieler kam, der nur darauf gewartet hat, Wochen nach Transferschluss noch beim KSV zu landen.

Am Montag meldet sich dann der KSV in Form einer Pressemitteilung. Trainer und Mannschaft werden das Vertrauen ausgesprochen. Doch klar wird auch, dass jetzt ein Ruck durch das Team gehen muss. Das Saisonziel, die Abschlussplatzierung der vergangenen Saison zu toppen, wird endgültig kassiert. Zusammenstehen ist jetzt die Devise, wie in den vergangenen zehn Jahren schon so oft. Wer konnte ernsthaft etwas anderes erwartet haben?

Finanziell ist der nördlichste Klub der Regionalliga Südwest ein eher kleines Licht, er hatte nie die besten Spieler und nie die größten Sponsoren oder die meisten Zuschauer. Überraschungserfolge und rückblickend unglückliche Zielvorgaben ließen die tatsächlichen Umstände vergessen. Bodenständig, jung und regional war nie ein Marketingkonzept. Es ist und war die Realität – und wird sie noch lange bleiben.

Die Rückschläge zu Saisonbeginn rückten das Ungleichgewicht aus utopischem Wunschdenken und den tatsächlichen Gegebenheiten zurecht. Die Heimniederlage gegen Barockstadt Lehnerz, dem vielleicht unsympathischsten Konstrukt seit Langem, brachte den KSV an den sportlichen Tiefpunkt. Vorerst?

Das Besondere am KSV Hessen Kassel ist, dass er besonders dann gut funktionieren kann, wenn alles verloren und alles Glück aufgebraucht zu sein scheint. Wenn nur noch die Letzten an ihn glauben möchten – wie zum Beispiel nach acht Spielen, in denen nur zwei Punkte eingefahren wurden.

Der KSV und seine Anhänger ticken nicht wie der Rest. Der harte Kern, der sich wie im März 2018 auch nach 16 sieglosen Spielen nicht abwendet und bedingungslos unterstützt hat, und eine Mannschaft, die sich für die Menschen auf den Rängen zerreißt, sind alles, was es in Kassel braucht. Das Ergebnis vor viereinhalb Jahren war grenzenloser Jubel, als Sebastian Szimayer den KSV zum 2:1-Heimsieg gegen Hoffenheim schoss. Unvergessen bleibt der Eintrag einer automatisierten Ticker-App: Wahnsinn.

Mit diesem Wissen und der unbedingten Leidensfähigkeit kommen an diesem Samstag also 1200 Kasseler gegen Offenbach ins Auestadion. Saisontiefstwert, aber immerhin ist es Derbyzeit. Es gibt genügend Bier, der OFC drückt von Anfang an. Doch mit jeder Minute kämpft sich das Löwenrudel weiter vor. Die Zuschauer spüren es: Hier geht heute was. Denn mit leichten Beinen kommen die verhassten Rivalen aus Südhessen keineswegs nach Kassel. Dort, wo Jahr um Jahr Millionenbeträge verbrannt werden, ist der Druck des neunten Tabellenplatzes groß und die Auswärtsschwäche in den Köpfen. Der gerade erst verpflichtete Trainer ist schon wieder Geschichte.

Nach einer halben Stunde dominiert der KSV, die Gegner können sich nicht mehr befreien. In der 36. Minute gibt es Freistoß für den KSV. Serkan Durnas Strahl klatscht an die Latte – schon wieder, wie gegen Fulda endet die erste Chance der Löwen am Aluminium. Das Stadion tobt, angeheizt vom Kampf der Kasseler Elf. Die Offenbacher lamentieren, fordern ein Offensivfoul. Keiner weiß warum, doch der Schiedsrichter entscheidet auf Eckstoß. Durna weicht auf dem Weg zu Eckfahne mehreren Becherwürfen des Gästepacks aus. Sein Eckstoß kommt hoch und erreicht die genesenen Hendrik Starostzik. Mit der Wucht seines ganzen Körpers köpft er den Ball ins Tor.

Jetzt wissen es alle, die den Weg ins Stadion gefunden haben: Der KSV kann es noch. Offenbach mauert sich in die Pause und geht mit schlotternden Knien in die Kabine. Auf dem Weg dorthin dreht sich Maximilian Zunker noch einmal Richtung Nordkurve um. Niemand steht schon fürs Bier an, am liebsten würden die Fans das Spiel jetzt weiterlaufen sehen. KSV, KSV, KSV.

In der zweiten Halbzeit wechselt der OFC früh, versucht mit Frischfleisch das eigene Spiel zu beleben. Das wirkt. Die Löwen fallen in alte Muster zurück, werden mit jedem Konter unsicherer. War es das jetzt schon wieder? Diese dünne Führung kann doch nicht reichen? Kein Schuss geht mehr auf das Tor der Südhessen. Der Kasseler Teil des Stadions wird stiller, es wird geraunt.

Nach einer Viertelstunde ist es so weit. Nachdem die Löwen es nicht geschafft haben, den Ball gefährlich in den Strafraum zu bringen, schalten die Kickers blitzschnell um. Drei gegen zwei, der KSV kommt nicht mehr hinterher und Zunker bleibt chancenlos. Ausgleich. Die Nordkurve verstummt für einen Moment. Aus Trotz und Wut sind vereinzelte Schlachtrufe zu hören, doch die Angst ist wieder da.

Offenbach spielt, die Elf von Tobi Damm hält dagegen. Mit allem, was sie haben. In höchster Not muss die Hintermannschaft des KSV mehrfach klären, es gelingen kaum Entlastungsangriffe. Damm wechselt. Können die Neuen heute die erhofften Nadelstiche setzen?

Zwar glänzen die Löwen keineswegs mit ansehnlichem Fußball, doch sie schenken jetzt keinen Zentimeter Rasen mehr her. Die Minuten schwinden dahin. Ein Punkt gegen ein so stark besetztes Offenbach ist nicht verkehrt. Aber in der aktuellen Situation bringt er überhaupt nichts.

Das Spiel ist eigentlich schon vorbei. Als einige Fans schon abgeschenkt haben und für das Wegbier anstehen, gibt es aber noch einmal Ecke. Es ist wie, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Für einen kurzen Moment scheint wieder alles möglich.

Totti küsst den Ball, Nacho bringt die Ecke. Zu flach, doch der zweite Ball landet bei Alexander Missbach. Dessen Flanke segelt in den Strafraum, wird rausgeköpft. Der Abpraller landet bei Nils Stendera. Schieß! Warum schießt der Junge denn nicht? Es ist doch alles wie immer, wieder ein Querpass, und noch einer. Der Ball landet bei Brill, zwei Offenbach stochern wild rum, aber irgendwie hält er denn Ball.

Von der Strafraumkante nimmt sich der Kapitän ein Herz und zieht ab. Der Ball wird abgefälscht und landet im Tor. Brill weiß, wo er jetzt hin will, wo er jetzt hin muss. Wenige Sekunden später liegen alle Kasseler auf einem Haufen zusammen. Das Stadion flippt aus. Der Schiedsrichter will noch den frühen Zug bekommen und pfeift ab.

Du kannst daran nicht glauben? Du warst doch schon mal im Auestadion?

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