Hirsch und KSV: Ein großes Missverständnis

Er hat es nicht leicht. Aber er macht es einem auch nicht leicht. Dietmar Hirsch ist seit Sommer Nachfolger von Tobi Cramer als Cheftrainer des KSV Hessen Kassel. Bereits neun Ligaspiele und eine Pokalpleite später deutet vieles darauf hin, dass die Geschichte vom Hirsch & den Löwen ein großes Missverständnis ist.

Ja, er hat es nicht leicht. Selten waren die Erwartungen an einen Trainer größer als vor dieser Saison. Vorstand und Aufsichtsrat trennten sich im Sommer von Tobi Cramer, der nicht nur in den schweren letzten Spielzeiten den Laden zusammenhielt, sondern in der vergangenen Saison die Löwen sportlich auf jenen Tabellenplatz führte, den dann Bayern Alzenau zum Aufstieg in die Regionalliga nutzte. Man schickte Cralle weg, denn man wollte sich professionalisieren. Da schien den Gremien ein ehemaliger Bundesligaspieler und ausgebildeter Fußballlehrer gerade recht zu kommen. 

Cralles Abgang im Sommer machte den Weg frei für Harry Hirsch; Foto: Fullewasser

Verpflichtet wurde er zwei Tage vor offiziellem Trainingsbeginn. Dem ein oder anderen schwante da schon, dass diese Verpflichtung wohl aus einer gewissen Not heraus geboren wurde. Aber nun gut. Den treuen und loyalen Fans des Vereins liegt dessen Wohl schließlich so sehr am Herzen, dass man beschloss, Hirsch eine faire Chance zu geben – wohl auch deswegen, weil der ohnehin starke Kader im Sommer noch weiter verstärkt wurde. „Eigentlich kann man auch den Torpfosten zum Trainer machen – die Mannschaft hat auch so genug Qualität aufzusteigen“ – so oder so ähnlich dürften nicht wenige Löwenfans gedacht haben. Dennoch stand Hirsch von Beginn an unter verschärfter Beobachtung. Und damit unter Druck. Den müsse er aushalten, hieß es, er sei ja schließlich Profi. 

Hirsch übernahm ein funktionierendes und eingespieltes Team. Das einzig echte Problem der vergangenen Saison, über keinen erfahrenen Innenverteidiger zu verfügen, schien mit Alex Missbach gelöst – ein Spieler, den Cralle bereits verpflichten wollte, als er noch für den TSV Steinbach in der Regionalliga die Stiefel schnürte. Im Mittelfeld sollten Buki Zukorlic und vor allem Ex-Profi Alban Meha für weitere Alternativen und einen gesunden Konkurrenzkampf sorgen. Was sollte da schon passieren?

Die Antwort auf diese Frage lieferte der Trainer prompt: Als aller erstes stellte Hirsch den Keeper in Frage. Völlig ohne Not wurde Niklas Hartmann zur Nummer zwei degradiert, spielte dann aber doch, weil sich Maximilian Zunker (laut Hirsch der bessere „Torspieler“) kurz vorm Saisonauftakt in Stadtallendorf verletzte. Die Verunsicherung war Hardy anzumerken. Was soll dir auch durch den Kopf gehen, wenn der Trainer dich auf die Bank setzt, obwohl du im letzten Jahr der Torhüter mit den meisten „Zu Null“-Spielen in der ganzen Liga warst? 

Ist Hardy zu wenig Torspieler? Foto: Fullewasser

Als nächstes stellte Hirsch das komplette Spielsystem in Frage. Mehr Offensivpressing, mehr Kreativität im Spiel nach vorne, mehr Variabilität. Das sah dann in Stadtallendorf so aus, dass man nach 45 Minuten bereits vier Dinger gefressen hatte. Schöner Mist. Der Gegentreffer zum 0:2 ist das beste Beispiel: Schmeer verliert im Strafraum den Ball während unsere Innenverteidigung bis weit in die gegnerische Hälfte aufgerückt war, schon fast auf Höhe des Sechzehners stand. Keine 10 Sekunden später lag die Murmel dann bei uns im Netz. Wer hatte Schuld? Für Hirsch ganz klar: Jan-Philipp Häuser. Weil er in der Rückwärtsbewegung den Allendorfer Stürmer nicht gestellt bekommt. Individueller Fehler. Wie fortan alles zu individuellen Fehlern erklärt wurde, was auf dem Platz schief lief.

Dass diese individuellen Fehler eventuell auch etwas mit den taktischen Vorgaben des Trainers zu tun haben könnten? Auf diesen Gedanken kam Hirsch bislang noch nie. Zumindest nicht in der Darstellung nach außen. „Mund abmachen, weiterputzen“, dachten sich die notorischen KSV-Optimisten im Umfeld und tatsächlich wurschtelte man sich dann irgendwie rein in die Saison. Siege gegen Friedberg und in Waldkirmes, dazu ein glückliches Unentschieden im „Rückspiel“ gegen Stadtallendorf. So richtig schlecht war das nicht, wenn auch in diesen Spielen beim besten Willen nicht alles Gold war, was glänzte. 

Doch der nächste Tiefpunkt lies nicht lange auf sich warten: ein peinliches und am Ende glückliches Unentschieden beim Aufsteiger Hanau 93, verbunden mit der Demütigung von Adrian Bravo Sanchez. Ausgerechnet ABS fiel dem Konkurrenzkampf im Mittelfeld zum Opfer. Der Spieler, der in der vergangenen Spielzeit gefühlt jedes zweite Tor der Löwen vorbereitete, durfte jetzt nur noch von Außen zusehen – nicht nur viele Löwenfans verstanden die Welt nicht mehr als Hirsch ihn noch in der ersten Halbzeit in Hanau vom Platz holte.

Adrian selbst tat das auch nicht, kloppte wutentbrannt den Ballsack um und randalierte sich für die Gästefans in Hanau gut sichtbar durch den Spielertunnel des schönen Herbert-Dröse-Stadions. Endlich mal Emotionen. Die Reaktion des Trainers nach dem Spiel am Zaun: „Eigentlich müsste ich den jetzt aus der Mannschaft werfen. Da merkt man das spanische Blut.“ Was genau eigentlich spanisches Blut sein soll hat Hirsch bis heute nicht erklärt. Adrian ist waschechter Kasselaner – mehr gibt es dazu nicht zu sagen. 

…und raus bist du! Foto: Fullewasser

Vorm Derby gegen Baunatal gestand Hirsch in einer Endlos-Pressekonferenz dann der semi-interessierten Öffentlichkeit, dass der Kader eigentlich nicht zu seinem Spielsystem passe. Die Ersten begannen nun sich lautstark zu fragen, ob der Trainer denn überhaupt zum Verein passe. Hirsch stellte die wackelige Abwehr auf eine Fünferkette um und sah sich darin bestätigt, als es gelang, das Derby zu Null und durch ein Eigentor zu gewinnen. Dass Tunptau an dem Tag aber in der Offensive völlig harmlos agierte und damit wirklich kein Belastungstest für die Löwenabwehr war – ach egal, wir haben ja endlich mal zu Null gespielt! 

Der Trainer vermag es nach wie vor nicht, unsere ehemals routinierte und selbstbewusste Équipe zu einer Einheit auf dem Platz zu formen. Das wurde dann eine Woche später in Ginsheim sichtbar, als es wieder ordentlich im Gebälk und auch untereinander auf dem Platz schepperte.

Stadtallendorf, wo sich Fuchs und Hirsch gute Nacht sagen. Foto: Fullewasser

Das harmlose Dietkirchen diente eine weitere Woche später als Begründung für Hirsch, gegen Fernwald erstmals in dieser Saison mit der gleichen Anfangsformation aufzulaufen wie in der Woche zuvor. In Fernwald wurde dann jedoch erneut das eigentliche Problem sichtbar. Es liegt nämlich gar nicht in der Abwehr, es liegt eindeutig in der Offensive. Ja, ein Hattrick von Saglik gegen Friedberg klingt erstmal gut. Dass er aber in diesem Spiel mindestens 6 Kisten machen muss, gehört zur Wahrheit ebenso dazu wie das mittlerweile kaum noch zu ertragende Ball-Quergeschiebe vor dem gegnerischen Kasten und die desolate Chancenverwertung. Niemand übernimmt Verantwortung, niemand haut den Ball einfach mal drauf. Überall Ladehemmungen.

Hirsch hat es geschafft, die komplette Mannschaft derart zu verunsichern, dass nahezu alle Spieler ihrer Form weit hinterherlaufen. Wer sich die Offensivbemühungen beim Tabellenletzten am vergangenen Wochenende angesehen hat fragt sich, wie man so um den Aufstieg mitspielen will?   

Und worauf begründet sich eigentlich die Hoffnung, mit Hirsch käme Professionalität in den Verein? Auf den Umstand, dass Hirsch 2011 als Cheftrainer des FC Sylt in der Schleswig-Holstein-Liga nach wenigen Spieltagen gehen musste? Oder auf das klägliche Scheitern bei der SV Elversberg in der dritten Liga? Oder auf die eher durchwachsene Zeit beim VfB Oldenburg? Oder den Abstieg mit dem SV Schackendorf aus der Schleswig-Holstein-Liga? Auf was bitte? 

„Jungs, ich hab einen Plan. Aber den versteht ihr nicht. Gni hi hi…“; Foto: Fullewasser

Mit Sicherheit hat Hirsch Eigenschaften, die ihn für einen Trainerposten qualifizeren. Es könnte aber sein, dass diese Qualitäten in der Hessenliga gar nicht gefragt sind. Während Cralle stets „einfache Bälle“ forderte, spricht Hirsch neumodisch von „Torspielern“ und versucht einer Einheit, die sich trotz widrigster äußerer Umstände (Insolvenz, Punktabzüge) in den vergangenen Jahren immer behauptete, zwanghaft Spielsysteme aufzuzwingen, die dummerweise offenbar kein Mensch versteht – oder zumindest nicht unsere Hessenliga-Spieler. Cralle hatte nicht für jede Spielsituation die passende taktische Antwort, aber er verstand es (zumeist), aus seinen Spielern das Optimum herauszuholen.

Hirsch hingegen stellt einzelne Spieler auf Pressekonferenzen gern mal öffentlich in den Senkel. Menschenführung und eine gewisse Sensibilität gegenüber den Gegebenheiten in der Oberliga wird wohl an Fußballlehrerschulen nicht vermittelt. Dazu gehört im Übrigen auch, dass man den Stimmungsboykott der Fanszene in der ersten Hälfte gegen Dietkirchen nicht auf der Pressekonferenz mit einem pseudo-überraschten „Oh, das hab ich ja gar nicht mitbekommen“ kommentieren oder dem KSV-Umfeld ein Leben in der Vergangenheit attestieren sollte. Was wollte uns der Trainer damit sagen? Dass ihn die Fans nicht interessieren? Dass es ihm auch sonst zu leise ist? Diese Aussagen waren ein Affront an all jene, die seit Jahren Wochenende für Wochenende der Mannschaft hinterher reisen und dabei sehr viel Zeit und Geld investieren – ganz besonders in den schwierigen Zeiten der Insolvenz.

Zeit schon abgelaufen?; Foto: Fullewasser

Was also tun? Wie man es dreht und wendet, man kommt wohl aus der Nummer mit Hirsch nicht mehr heraus. Der Verein wird sich keinen zweiten Trainer leisten können in dieser Saison, die Erfahrung aus der letzten Insolvenz verbietet ein solches Handeln – eigentlich. Somit scheint auch eine Rückkehr von Tobi Cramer, wie es von vielen bereits lautstark gefordert wird, daher unwahrscheinlich.

Mannschaft und Fans: Eine Einheit. Hier nicht im Bild: Harry Hirsch; Foto: Fullewasser

Es gibt für den bevorstehenden „Rocktober“ nur eine Lösung: unsere Löwen machen sich frei vom Professionalitätsgefasel, besinnen sich wieder auf sich selbst und ihre Stärken, legen Einsatzbereitschaft und bedingungslosen Kampf an den Tag und ziehen den Karren allein aus dem Dreck. Sie sollten sich das selbst beweisen und sie sollten es für ihre treue Anhängerschaft tun. Diese haben der Mannschaft keinesfalls die Liebe entzogen – auch wenn der Stimmungsboykott in der ersten Hälfte gegen Dietkirchen so verstanden werden konnte und die Worte zuletzt deutlicher ausfielen. Er war eher Ausdruck einer gewissen Hilfs- und Ratlosigkeit angesichts nicht erklärbarer Leistungen der vergangenen Wochen. Die Mannschaft wird sich der Unterstützung der Fans immer sicher sein können, sofern der Einsatz stimmt. Packt es an, Löwen!

So. Foto: Fullewasser

2 Gedanken zu „Hirsch und KSV: Ein großes Missverständnis“

  1. Die schwache Rolle MüllerS als des Trainers Cheffe nicht thematisiert. Da fehlt noch ein Aspekt…!sonst gut – aber nicht sehr gut.

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  2. Das Beste, was es zu diesem Thema zu sagen gibt. Danke. Trotzdem interessiert mich in dem Zusammenhang eure Sicht auf die Vereinsführung in diesen Zeiten. Aber vielleicht habe ich an anderer Stelle etwas überlesen.

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