Unter der Woche ging es bereits mit einer unscheinbaren Meldung los, es war der Dienstag nach Pfingsten: der FC Bayern Alzenau lässt zu seinem Heimspiel gegen Hessen Kassel 250 Zuschauer*innen zu. Wie bitte? Zuschauer*innen bei Fußballspielen? Sowas gibt’s? Also, gleich mal Telefon in die Hand und auf der Geschäftsstelle in Unterfranken anrufen: „Joa, also eigentlich sind diese 250 Tickets ja für unsere Fans gedacht, aber wir machens jetzt einfach mal so, lieber Herr Blog36, ich lege Ihnen einfach mal zwei Stück zurück“! Oh prima, per Vorkasse bezahlen, Karten werden am Kartenhäuschen zurückgelegt, dort einfach abholen, viel Spaß, bitte, danke. Was folgte war ungläubige Vorfreude: Alter, wir haben Tickets für ein echtes Fußballspiel von Hessen Kassel! Wir gehen am Samstag einfach so zum Fußball. Ein Wunder ist geschehen. Das Wunder von Alzenau.
Zur Vorfreude gesellte sich schlagartig auch eine Portion pure Nervosität: Was zieh ich eigentlich an? Passt meine sorgsam in der Pandemie angefressene Corona-Kathedrale eigentlich noch in das ohnehin schon viel zu enge Matchworn-Shirt von Nacho? Wie krieg ich noch schnell die eingetrockneten Senfreste von Jacke und Schal? Brauch ich nen Schirm? Zug oder Auto? Hose anziehen oder nicht? Bier oder Bier? Quälende organisatorische und stilistische Fragen wurden begleitet von detaillierten Fragen zum adäquaten Verhalten in einem Fußballstadion: Wie bringe ich zum Ausdruck, wenn ich zu einer Entscheidung des Schiedsrichters eine grundsätzlich andere Auffassung vertrete? Darf ich das überhaupt? Wie waren gleich die Vereinsfarben? Waren wir die Löwen oder die Möwen? Und warum spielen wir auf einmal gegen den FC Bayern? Wie lang, um Himmels willen, hab ich denn geschlafen?
Vor Ankunft im Alzenauer Fußballtempel wird beim Blick auf die Facebook-Timeline schnell klar: wir sind nicht die einzigen Kasseler, denen der nette Herr auf der Geschäftsstelle Tickets zurückgelegt hat. Halb Nordhessen scheint auf dem Weg nach Bayern zu sein. Also vorher lieber alle noch schnell testen, Jens Spahn schmeißt ne Runde: erstmal Stäbchen rein in die Rummenigge-Rübe, bisschen rumrühren, zack, fertig. Jetzt noch noch nen bisschen warten und dann: Testergebnis negativ! Nun kann nichts mehr schief gehen. Es erreicht uns die Nachricht, dass im Landkreis Aschaffenburg ab heute gar kein Test mehr notwendig ist um ins Stadion zu kommen, weil diese Streber seit Tagen eine Inzidenz stabil unter 50 haben. Nichtsdestotrotz: sicher ist sicher.

Angekommen am Stadion befindet sich neben dem Eingangsbereich ein kleiner Hügel mit ausgezeichneter Sicht aufs Spielfeld, wo sich ein Dutzend KSV-Fans rumtrollen – vorm Zaun. Sie machens sich dort bequem, halten aber die Abstände nicht ein und werden im späteren Verlauf von der bayerischen Polizei von ihren Plätzen vertrieben. Kaum zu glauben: aber es gibt immer noch Tickets. Offenbar haben auch die Alzenauer*innen das kleine Einmaleins des samstäglichen Stadionbesuchs während der Pandemie komplett verlernt.
Egal. Jetzt Fußball. Nein. Erstmal Bierchen. Ruckzuck hat man vorm Anpfiff schon wieder das dritte Bier in der Hand und fragt sich, wie das nun schon wieder passieren konnte und vor allem wo das noch hinführt. Die üblichen Stadionreflexe scheinen aber zu sitzen. So, jetzt Platz einnehmen und Anpfiff. Ungläubige, weil ungewohnte Blicke aufs Spielfeld: Wow, dieser Basti Schmeer sieht ja in echt viel größer aus als im Fernsehen. Die bis dato noch nicht vertriebene KSV-Crew vorm Stadion skandiert: „Hier regiert der KSV!“ Paah, Bullshit, wo leben die denn? Hier regiert die CSU! Ganz Unterfranken leidet unter den harten Corona-Rechtsverordnungen von Markus Söder und seiner Schergen.

Und zack: auf einmal stehts 1:0. Das ging ja schnell: Sagliks Traumpass direkt in den Lauf von Basti Schmeer und der haut ihn wuchtig in die Maschen. Was macht man denn jetzt? Singen? Franck Ribérys Jubelpose? Alle Löwen im Stadion brüllen irgendwelche KSVLöwenJaaaaaBaaassstiiii-Rufe durch die Gegend. Herrlich-schöner Anarcho-Support. Als Unterfranke muss man glauben, Kassel sei ein einziges großes Tourette-Gebiet.
Nach der frühen Führung plätschert das Spiel so vor sich hin. Alzenau lässt eine Chance nach der anderen liegen und demonstriert eindrucksvoll ihre sportliche Qualifikation für die Hessenliga im kommenden Jahr. Es wird das 27. Spiel in Folge sein, das die Bayern nicht gewinnen können. Der KSV reist sich derweil kein Bein aus, hat Glück, weil Alzenau zweimal Aluminium trifft. Im eigenen Spiel nach vorn fehlt komplett die Zielstrebigkeit, man fragt sich mittlerweile schon, wie Damm & Buschi die Offensivabgänge von Basti, Mahir und Adrian kompensieren wollen. Flotho bleibt jedenfalls über 90 Minuten auf der Bank, auch von Fischer geht nicht viel mehr Torgefahr aus an diesem Tag. Alban Meha wird ausgewechselt, weil ihm ein unterfränkischer Grobmotoriker auf den Latschen steigt. Als Meha ums Feld herum Richtung Bank humpelt, fliegen ihm Genesungswünsche zu. Alban scheint überrascht zu sein, dass da tatsächlich echte Menschen sitzen.
Dann Halbzeit. Knappe Führung und die Erkenntnis, dass man immer noch weiß, wie man adäquat auf Halbzeitsbierdurscht zu reagieren hat. Unterwegs zum Bierstand trifft man telefonierende Groundhopper: „…du kannst dir nicht vorstellen, wo ich bin! In Alzenau! AL-ZE-NAU! Das ist in Bayern. Oder in Franken. Egal. Ja, das heißt AL-ZE-NAU. Ich schau ein echtes Fußball-Spiel. Ja, ehrlich. Im Stadion. Nein, in echt!“ Es liegt eine tiefe Zufriedenheit in der Luft. Endlich wieder Fußball, da spielt das Geschehen auf dem Platz nur eine untergeordnete Rolle. Er berichtet seiner Gesprächspartnerin in einer Euphorie als ginge es in diesem Spiel um einen ganz großen Titel – z.B. den Hessenpokal.

Die Geschichte der 2. Halbzeit ist schnell erzählt: Alzenau mit viel Ballbesitz und wenig Talent, die Löwen verhalten sich wie der gute Gaul, der nicht höher springt als er muss. Für die kommende Saison wird das zu wenig sein, aber das weiß unser Erfolgstrainer auch selbst.
Mit dem Sieg ist die 50-Punkte-Marke geknackt. Das gesteckte Ziel, mindestens Sechzehnter zu werden, ist zwei Spieltage vor Schluss greifbar. Der aktuelle Platz 11 wäre ein mehr als respektables Ergebnis.
Der Nachmittag im Alzenauer Stadion hatte bereits viel von dem zu bieten, was wir unter Stadionerlebnis kennen und vermissen. Daher gebührt den Unterfranken und Möchtegernhessen ein ausdrückliches Danke schön dafür, dass sie uns dieses Ereignis ermöglicht haben, während ihre eigene Anhängerschaft weitestgehend zu Hause blieb.
Beim Verlassen des Stadions und einer Spontansuche nach einem Klo, verlaufen wir uns in die Alzenauer Sporthalle, das neuerdings ein Testzentrum ist. In einer riesigen, halbdunklen Sporthalle sitzen die Menschen in Zweiergruppen mit ihren Masken und starren ins Nichts. Der Gipfel der Trostlosigkeit. Freundlich-besoffene Blog36-Annimationsversuche („Hey, Hey, wer nicht hüpft ist Masken-Dealer!“ oder „Steht auf, wenn ihr Impfe wollt“) laufen dort ebenso ins Leere wie politische Grundsatzdiskussionen („Mal Hand hoch wer für das Verbot der CSU ist“). Zwei Welten prallen aufeinander: eben noch die vermeintliche Leichtigkeit im Stadion und nun die harte Realität der Pandemie inklusive einer übel riechenden Tristesse. Übel riechen wir auch, was aber nur bedingt mit Corona zu tun hat. Trotzdem ist es jetzt besser, die Heimreise anzutreten.